Die Antipsychiatrie und die Geschichte der Psychiatrie
pp. 104-114
Abstract
Glatzel betonte, daß die Antipsychiater weder die Geschichte der Psychiatrie noch die Geschichte der abendländischen Psychopathologie genügend zur Kenntnis nahmen (89,90). Nach ihrer Auffassung seien die Ergebnisse der psychopathologischen Forschung durch die jeweilige klassenpolitische Situation so sehr beeinflußt, daß Psychopathologie an der Perpetuierung der Strukturen teilhabe. Deshalb sei erkenntnistheoretischer Fortschritt in der Psychiatrie nur möglich, wenn der gesellschaftliche Rahmen, aus dem Erkenntnis erwachse, vorher erhellt und gegebenfalls verändert wird. Diese Auffassung ist kontradiktorisch zu der von Jaspers, der wissenschaftlichen Fortschritt in der Psychiatrie auf dem Boden einer kritischen Anwendung ihrer Methodologie nicht nur für möglich hielt, sondern als Voraussetzung ansah, daß ein Mißbrauch der Psychiatrie verhindert werde. Im antipsychiatrischen Schrifttum erfolgte dagegen die Vernachlässigung historischer Quellenforschung geradezu systematisch (90). Deshalb wußten die Autoren offenbar nicht, daß ihre Thesen in der Geschichte der abendländischen Psychopathologie, wenn auch zum Teil mit anderen Worten und Akzentuierungen, bereits eine über 2000-jährige Geschichte haben. Aber nach einem ironischen Slogan leben die Psychiatriekritiker der Gegenwart mit einem "Korsakow-Syndrom" (111).
Publication details
Published in:
(1995) Die Psychiatrie in der Kritik: die antipsychiatrische Szene und ihre Bedeutung für die klinische Psychiatrie heute. Dordrecht, Springer.
Pages: 104-114
DOI: 10.1007/978-3-642-79091-1_5
Full citation:
Rechlin T., Vliegen J. (1995) Die Antipsychiatrie und die Geschichte der Psychiatrie, In: Die Psychiatrie in der Kritik, Dordrecht, Springer, 104–114.